Mehr konstruktiver Aktivismus! – 15 Jahre Sozialhelden

Eine Rede von Sozialhelden-Gründer Raul Krauthausen.

Preisübergabe des Deutschen Nachhaltigkeitspreis (v.l.n.r): Prof. Dr. Wolf-Dieter Lukas, Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Raul Krauthausen, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Sozialhelden e.V. und Jonas Deister, Geschäftsführer des Sozialhelden e.V. Foto: Dariusz Misztal

Im November 2019 haben wir unseren 15. Geburtstag gefeiert. Raul hielt an diesem Tag eine kleine Rede, die wir euch nicht vorenthalten wollen:

In den letzten Jahren stelle ich mit Freude fest, dass sich auf ähnlichen Veranstaltungen wie dieser ein größeres Bewusstsein für Inklusion entwickelt hat. Es wird langsam verstanden, dass behinderte Menschen ebenso in die Mitte der Gesellschaft gehören, wie Nichtbehinderte. Und der Begriff “Inklusion” ist beinahe in aller Munde.

Viele Menschen – mit und ohne Behinderung – denken darüber nach, wie Inklusion gelingen könnte, wie Ungerechtigkeiten abgebaut und Barrierefreiheit umgesetzt werden könnte. Allein, dass wir hier nach 15 Jahren in so großer Zahl zusammenkommen, beweist das. 

Wir sind mit 20 Mitarbeiter*innen immer noch ein kleiner Verein, was ich sehr schön finde, denn dadurch bauen unsere Projekte langsam aufeinander auf. Vor 15 Jahren, als ich mit meinem Cousin zusammen geschaut habe, ob die Domain www.sozialhelden.de frei ist, hätte ich nicht gedacht, dass wir heute mal hier stehen.

Unsere Projekte sind in den letzten Jahren gewachsen, haben sich entwickelt. Allen gemeinsam ist unser Ziel von Disability Mainstreaming. Disability Mainstreaming bedeutet das Mitdenken von Behinderung von Anfang an und nicht erst nachher, wenn sich Menschen mit Behinderung beschwert haben.

An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, ein paar Gedanken mit euch zu teilen: Wir, die Sozialhelden, sind politischer geworden:

  • Wir beobachten mit Sorge, dass politische, gesamtgesellschaftliche Aufgaben an die Zivilgesellschaft ausgelagert werden. Vereine übernehmen immer mehr Aufgaben vom Staat. Der soziale Sektor muss wachsam bleiben, dass dies Zusatzangebote bleiben und nicht mit viel Ehrenamt wichtige Aufgaben erfüllt werden.
  • Desweiteren müssen wir diejenigen, die Inklusion verhindern, beim Namen nennen. Wir müssen die Wohlfahrt kritisch hinterfragen, ob sie wirklich an einer inklusiven Gesellschaft mitarbeitet oder lieber in einem exklusiven Rahmen agieren will.
  • Und es darf auch nicht beim Fragenstellen bleiben, sondern es müssen Taten folgen und Veränderungen müssen sichtbar werden.

Das fängt auch schon dabei an, dass wir nicht nur immer auf die Leuchtturmprojekte schauen sollten, sondern auch darauf, ob diese auf das Umfeld abstrahlen.

Was nützt eine inklusive Schule im Landkreis, wenn Gymnasien weiterhin individuell entscheiden dürfen, ob Menschen mit Behinderung ihr Abi machen dürfen oder nicht.

Wir haben genug Leuchtturmprojekte. Jetzt brauchen wir strukturelle Förderung!

Und diese Fördermaßnahmen sollten dann nicht bei den Wohlfahrtsverbänden landen, sondern bei den Betroffenen selbst.

Was mir wirklich wichtig ist: Wir brauchen einen konstruktiven Aktivismus. Es geht nicht nur darum, die “Barrieren in den Köpfen” zu beklagen es geht darum, Begegnungen, Austausch und Mitbestimmung auf allen Ebenen zu schaffen.

Und diese Begegnungen sollten nicht in einem “Dunkelrestaurant” stattfinden, an Schnuppertagen oder bei “Rollstuhlexperimenten”. Sie müssen dauerhaft in Arbeit und Freizeit sein. Dann erledigt sich nämlich auch der Satz von den “Barrieren in den Köpfen”, der meistens von nicht-behinderten Menschen geäußert wird, weil es einfach ist, nichts kostet und trotzdem alle klatschen.

Diesen Satz höre ich seit ich zehn Jahre alt bin und das ist jetzt schon fast 30 Jahre her. Ganz ehrlich: Mir geht das zu langsam! Es geht dabei nicht mal um mich oder die SOZIALHELDEN, sondern es geht insgesamt um die Wertschätzung für behinderte Menschen in dieser Gesellschaft.

Wenn wir über Inklusion sprechen, dann sprechen wir über Machtfragen.
Behinderte Menschen sind keine Aliens, die wir erstmal beobachten müssen, ob sie ansteckend oder gefährlich sind oder im schlimmsten Fall die Comfort-Zone von nicht-behinderten Menschen bedrohen. Wir alle müssen weiter daran arbeiten, dass Inklusion auch praktisch gelingt. Dazu müssen wir uns Fragen stellen:

  • Wie viele Menschen mit Behinderung kennen wir in unserem Alltag eigentlich?
  • Wie viele haben wir in unserem Freundeskreis, als Nachbar*in, als Kolleg*innen, in der Yogagruppe?
  • Fragen wir unsere Arbeitgeber*innen doch mal, warum es so wenige sind.
  • Äußern wir den Wunsch nach mehr Vielfalt und Inklusion im Kollegium, in Gremien oder bei der nächsten Mitglieder*innen-Versammlung.
  • Gibt es in der Hochschule oder Ausbildung behinderte Kommiliton*innen oder Azubis? Wenn nein, dann fragt nach, warum das so ist.

Wer einen DIY-Workshop, Tanzkurs, feministische Netzwerktreffen oder einen Stammtisch für Meerschweinchen-Halter*innen organisiert, sollte fragen: Sind die Locations barrierefrei?
Wenn ja: Schreibt diese wichtige Information ins Programm, auf die Internetseite und aufs Plakat.

Und wenn die Räumlichkeit nicht barrierefrei ist, schauen wir uns um, ob es nicht vielleicht eine barrierefreie Alternative oder eine Rampe gibt.

Viele Menschen mit Behinderung haben schon so oft negative Auskünfte erhalten, dass sie manchmal gar nicht mehr die Energie haben nachzufragen, ob eine Kurs- oder Workshop-Räumlichkeit barrierefrei ist. Umso besser, wenn sie diese Info ganz selbstverständlich und ohne Nachfragen zu müssen, präsentiert bekommen.

Inklusion bringt uns in die Verpflichtung, Zugänge zu schaffen. Also schaffen wir Zugänge! Ermöglichen wir Teilhabe!

Es gibt so viele Möglichkeiten, auch im Kleinen etwas zu verändern. Und darum bitte ich alle: Handelt!

Sagt nicht mehr, dass “wir uns auf den Weg gemacht haben” oder dass es ja letztendlich vor allem um die “Barrieren in den Köpfen” geht oder dass wir ja alle eine Behinderung haben”.

All diese Sätze ignorieren die persönlichen Erfahrungen behinderter Menschen, die im Zweifel immer eine Behinderung mehr haben bzw.  besser wissen, was getan werden muss. Geht mit behinderten Menschen in den Austausch, aber erwartet nicht, dass sie es ehrenamtlich tun. Denn leider ist es noch zu oft so, dass Menschen mit Behinderung vor allem dann hinzugezogen werden, wenn sie die Arbeit von Nichtbehinderten “legitimieren” sollen. Dass Menschen mit Behinderungen aber auch Expert*innen sein können und von Anfang an einbezogen werden, erleben wir noch zu selten.

Okay, ich könnte immer weiter darüber sprechen, an welchen Stellschrauben gedreht werden könnte oder welche Konstruktionen komplett neu gebaut werden müssten. Nur sind wir heute hier zum Feiern und die letzten 15 Jahre haben mir auch gezeigt, dass sich Dinge ändern und wir auch Sachen verändern können und darauf stoße ich mit euch jetzt an.

Auf die nächsten 15 Jahre und danke auch an alle, die uns und unser Handeln kritisch begleiten.

Alle Bilder von Jörg Farys